Die Idee zu dieser Reise geisterte seit Jahren durch meinen Kopf. Die Gründe hierfür liegen wohl in meiner Affinität zu Videospielen und in diesem Zusammenhang natürlich in der Spielereihe Stalker. Die Faszination dieses Spiels und der Aufwand, mit welchem die Zone nachgebaut wurde, haben mich damals schon in Ihren Bann gezogen und bis heute nicht mehr losgelassen.
Nachdem sich im letzten Jahr dann doch einige unerwartete Ereignisse in mein Leben geschlichen haben, wurden auch die letzten Zweifel und Hindernisse, für diesen Trip, aus dem Weg geschafft und somit war die Bahn frei für mich und meine stupide Idee, die Beziehung zu Chernobyl zu vertiefen.
Doch wie findet man für sowas Mitreisende? Die meisten die ich gefragt habe lachten, zeigten mir den obligatorischen „Vogel“ und stellten mich eigentlich alle durchweg als bescheuert hin. Einige Mitstreiter konnte ich finden, doch wie es immer so ist im Leben und vor allem mit der Planung einer Reise, je näher man dem Termin kommt bzw. je mehr man die Planung vertieft, desto mehr Leute springen aus verständlichen oder teils absolut fadenscheinigen Begründungen ab. Aber einen „Blöden“ gibt’s immer und ich hab ihn gefunden. Danke Flori 😉
Man muss dazu sagen, mit ihm hab ich am wenigsten darüber gesprochen aber er hat sofort zugesagt und einen alten Kiew-Urlaubs Veteranen am Start zu haben, konnte nicht schaden.
Nach der Arbeitsverteilung (Ich plan den Trip in die Todeszone, da Flori die Flüge und das Hotel), standen wir Gewehr bei Fuß am 1. Mai am Münchner Flughafen und los ging es Richtung Ukraine. Beiläufig hat mir da Flori dann noch erzählt, dass er das Hotel noch nicht gebucht hat, was zu einem leichten Wutausbruch meinerseits geführt hat, aber mei wir fahren ja nur nach Kiew, is ja wie Malle da finden wir schon was. Ganz landestypisch ging es mit Ukraine International Airways in die Kornkammer Europas und man fühlte sich schon im Flieger irgendwie ein wenig nach Osteuropa versetzt. Die kyrillische Schrift war gar nicht so beeindruckend, die grimmig schauenden Menschen auch nicht aber der Bierpreis schon. 2 € für eine 0,5l Dose Bier, des is a moi a Ansage. War zwar ukrainisch aber bei weitem nicht so schlimm wie Warsteiner bei Lufthansa oder Air Berlin.
Gute zwei Stunden später dann die ersten Eindrücke einer komplett neuen Reisegegend. Belustigt über kleine Traktoren, die am Flughafen die Gepäckwägen ziehen und alte Ladas, die als Follow-me- Car fungieren, der erste Kontakt mit Beamten in der Ukraine. Was wollen sie hier? Holiday! Wo wohnen sie? Hotel Ukraina. Genau in diesem Moment hätte ich mir meinen Teil denken können, als der nette Herr die Augen verdreht hat, meinen Pass stempelte und mir mit komischem Unterton, einen schönen Aufenthalt gewünscht hat. Abenteuer Osteuropa jetzt gehst du richtig los, dacht ich mir und war gleich mal überfordert mit 5-6 Taxifahrern, die uns ihre Dienste anboten. Treudoof wie ich bin, wäre ich auch sofort mitgefahren aber dank Flo konnte ich erst einmal die Vorzüge ukrainischer Nahverkehrsmittel genießen und mich im Bus mit den Einheimischen vergnügen. 20 min und 2 Tode später, mitten in Kiew, an einem Bahnhof dann der Wechsel in die erste Todeszone. Die Todeszone hieß Moskwitch, hatte keine Sicherheitsgurte, keinen Hebel für die Fensterheber und der Kofferraum war nur durch die Rücksitzbank erreichbar. Der Taxler dieser rollenden Zeitbombe hieß Igor und ist gefahren wie der letzte Vollspinner. Typisch Osteuropa halt. Von den Eindrücken her wurde ich natürlich nicht enttäuscht in den ersten 60 min Ukraine, laute Electrobeats mit russischem oder ukrainischem Gesang, fette Ami oder Nippon SUVs teilen sich die Trasse mit kleinen undefinierbaren Schrottkisten, die für jeden TÜV Prüfer schon vorm Lichttest ein Totaldurchfall/Ausfall wären. Die Skyline wird geprägt von bestem Sowjet Chic und 20-stöckigen Mietskasernen. Auch hier wieder das absolute Kontrastprogramm.
Altes Hochhaus aber die größte Werbung für ein Galaxy S5, die ich je gesehen habe. Aber nun zurück zu Igor, der im Geschwindigkeitsrausch, fluchend, rauchend und telefonierend durch Kiew donnerte und auch komisch schaute, als wir sagten wir wollen ins Hotel Ukraina. Meiner Meinung nach hat er versucht uns zu erklären ob wir nicht doch lieber woanders wohnen wollen aber nachdem mir zugetragen wurde die Taxler sind nur provisionsgeile Selbständige haben wir darauf bestanden. Hotel Ukraina, no other Hotel.
Letzte Kurve in der Kiewer City, da Flo meint noch ganz schlau, jetzt sind wir gleich da und dann erkannten wir endlich warum uns alle komisch ansahen, sobald wir den Hotelnamen erwähnten. Todeszone Nummer zwei war gefunden. Das Ukraina liegt direkt am Maidan-Platz, was uns ja auch durchaus bewusst war, nur wussten wir nicht das dort nach wie vor unzählige Revoluzzer die Stellung halten und Barrikaden bauen, wie andere Häuser. Die erste von unzähligen Fahrzeugkontrollen war relativ schmerzfrei und wir waren Igor endlich los. Vor dem Hotel ein unbeschreibliches Bild, Reifenbarrikaden, Übertragungswagen und Revolutionäre in Uniform, mit selbstgebastelten Schilden und Schlagstöcken. Ein Geruch von verbranntem Holz und verbranntem Plastik lag in der Luft und war für die nächsten Tage unser ständiger Begleiter im Herzen Kiews oder besser gesagt, im Herzen der Revolution.
Der Blick aus dem 12. Stock, einfach atemberaubend. Wären da nicht die Zelte der Demonstranten, die ausgebrannten Autos oder das abgebrannte Gebäude auf der gegenüberliegenden Seite. Kurz frisch machen, alles sacken lassen und auf in das Volksfest am Maidan, ja richtig Volksfest. Allen Eindrücken zum Trotz, herrscht dort eine entspannte Atmosphäre und die Menschen strömen in Scharen dorthin, einfach um ihre Solidarität mit den Verweilenden zu teilen oder einfach nur um Bilder zu machen. Man kommt sich vor wie am Markusplatz in Venedig oder an irgendeiner anderen großen Sehenswürdigkeit. Pantomime, Leute in großen Kostümen, die für Geld ein Foto mit dir machen und ein Kinderkarusell. Eigentlich wie überall, nur halt eben anders. Typisch Osteuropa halt, da schauts immer wild aus. Die erste Überquerung des Maidan und Gott sei Dank endlich ein internationales Restaurant. Die goldene Möwe ist natürlich auch in Kiew gelandet und ein Big Mac Menü für umgerechnet 2,50 €, schmeckt irgendwie besser.
Ok es schmeckt nicht besser aber es ist billig, wie so ziemlich alles hier. Bier für 0,30 € – 1,20 €, Heineken 2,50 €, Erdinger Weißbier 2,80 €, Red Bull 0,80 € und die Schachtel Lucky Strike für 1,20 €. Eben typisch Osteuropa. Gesättigt und von Eindrücken erschlagen gings erstmal zurück ins Hotel und ab in die Falle, der große Tag stand bevor.
Freitag 02.Mai 2014, exakt 10233 Tage nach Tag X, morgens 9 Uhr in Kiew. Anda und Flori treffen ihren Guide für die Tschernobyl Tour. Sein Name ist Igor und ich treib ihn erstmal zur Weißglut wie ich ihm meinen Perso unter die Nase reibe und er feststellt, dass ich einen Reisepass brauche. WE NEED PASSPORT- NO ID CARD!!! Ok Igor mein Fehler, wird alles nicht so schlimm sein, denk ich mir und hol mein Reisepass. Bis zum ersten Stopp an der Tankstelle, ca. 30 min, erklärt er uns immer wieder, dass es sein kann, dass ich nicht in die Zone darf, weil die Daten ja nun nicht stimmen und und und. Ja, zu dem Zeitpunkt hat er wirklich Stress gemacht, der Igor. Zu meiner Verwunderung ist unser neuer Igor aber echt entspannt gefahren und er scheint wohl der gehobenen Mittelschicht anzugehören. Sein Auto war ein Chevy, mit elektrischen Fensterhebern (vorne) und Klimaanlage. Auf unserer Fahrt nach Norden prasselten die Daten rund um das Unglück nur so auf uns herab und nach dem ersten Kaffee hat Igor sich auch wieder beruhigt und kam aus dem Reden gar nicht mehr heraus. Irgendwann schaltete ich dann vorerst geistig ab. Ungenießbarer Kaffee und zu wenig Schlaf zollten ihren Tribut und ich genoss einfach die Landschaft. Weite Kiefernwälder und endlose Felder in einem satten Grün, von dem unsere Wiesen nur Träumen können. Doch leider hält auch hier die Industrialisierung Einzug und so wechselten sich endlose Wälder und Felder ab mit endlosen Hallen, die Igor sehr treffend als Concentration Camps bezeichnete und dabei laut lachte. Typisch deutsch schauten wir uns ein wenig verwundert an und Igor klärte uns auf, dass es sich um Concentration Camps für Hühner handelt. Er hält das wohl für einen treffenden Vergleich. Allgemein geht man in der Ukraine sehr gelassen mit diesem Thema um und Hakenkreuze findet man dort überall, dazu später mehr. 1,5 Stunden nach dem Aufbruch in Kiew dann das erste Ziel der Reise: Checkpoint 1, Eintritt in die Speerzone. T-30 km bis zum Reaktor.
Igor erledigt den Papierkram und zeigt noch grinsend auf eine schäbige Baracke mit den Worten „Da müssen die warten, die ihren Ausweis vergessen haben“. Der erste Fotowahnsinn beginnt und 10 Min. später sitzen wir wieder im Auto. Immer weiter Richtung Norden, die Vegetation wird immer üppiger und selbst am Rande der Zone kann man eindrucksvoll feststellen, dass sich die Natur alles wieder holt. Der Ortseingang zum Ort Tschernobyl, ist der nächste Fotostop und was man nicht glauben mag, leben dort aktuell bis zu 3000 Menschen. Entweder im 15 Tage-Wechsel oder Vollzeit. Igor und seine Zahlen, eine Sache für sich aber ein wenig hab ich mir auch gemerkt. Täglich pendeln 4000 Arbeiter ins Kraftwerk, um Wartungen an den noch intakten, aber abgeschalteten, Blöcken 1,2 und 3 vorzunehmen. Die Arbeiter leben alle in Slawutytsch, einer Stadt außerhalb der Zone. Von dort geht’s täglich per Zug, über Weißrussland, ins Kraftwerk. Die anderen Arbeiter sind im Auftrag der Französischen Firma Novvark dort, um die neue Reaktorschutzhülle zu errichten. Hierzu noch eine kleine Anmerkung, 95% der am Bau beteiligten sind Ukrainer, 5% Franzosen. Ein Franzose verdient im Schnitt 25000 € im Monat, der Ukrainer 1000 €. Aber typisch Franzosen, im Februar 2013 ist aufgrund großer Schneemassen das Dach der Maschinenhalle, die etwa 70 Meter vom Sarkophag entfernt ist, eingestürzt. Alle Franzosen haben umgehend die Flucht ergriffen und sind erst nach einem Monat wieder gekommen. In diesem Zusammenhang war ich dann Igors bester Kumpel. Er mag die Franzosen nicht und Witze wie, „Warum haben frz. Panzer Rückspiegel? Damit sie auch mal die Front sehen“, haben ihn absolut gefreut. Die Leistungen der Franzosen muss man aber auch positiv hervorheben. Frankreich schenkte den USA die Freiheitsstatue, der Ukraine haben sie ein 80 Mio. teures, nicht einsatzfähiges Endlager für kontaminierte Stoffe geschenkt. Der leitende Ingenieur beging Selbstmord, nachdem der ukrainische Staat sich weigerte für diese Schrotthalle zu bezahlen und nun ist die Todeszone um ein sinnloses Bauwerk reicher.
Aber zurück zur Tour. Im Ort Chernobyl sind neben den Wohnhäusern der Arbeiter, noch zwei Kantinen (Das Essen wird von außen geliefert), eine Polizeistation und eine Feuerwache untergebracht. Für Besucher gibt es noch ein kleineres Museum und eine Gedenkstätte für alle aufgegebenen Siedlungen im Sperrbezirk.
Von Tschernobyl aus, steht als nächster Programmpunkt der Kindergarten von Kopachi auf dem Programm und der erste Kontakt mit einem s.g. Hotspot, nein da gibt’s kein WLAN. Diese HotSpots sind überall in der Zone zu finden und können auf Strassen, Steinen, Bäumen usw. sein. Allerdings sind die Hotspots mittlerweile zwischen 15 und 20 cm im Boden verborgen, was die Erde darüber relativ wenig belastet. Igor ist experimentierfreudig und nimmt Erde vom Hotspot legt sie 2 Meter daneben wieder ab und siehe da, Strahlendosis ist ums 10fache geringer und liegt bei einem Wert wie man ihn, nach Igors Aussage, auch in Paris finden kann. Der hats wirklich mit seinen Franzosen. Ein kleiner Zwischenstopp nach dem Kindergarten, noch an ein paar dekontaminierten Fahrzeugen die zur Bekämpfung des Brandes und bei der Reinigung des Reaktors benutzt wurden und schon nähern wir uns dem Herzstück der Zone.
Checkpoint 2, T-10km. Selbe Prozedur wie am ersten Checkpoint. Viel Papierkram, nochmalige Sicherheitsunterweisung und weiter geht’s. Der neue Sarkophag erscheint am Horizont und ist weithin sichtbar. Das Leben auf der Strasse nimmt auch mehr und mehr zu. Busse, LKWs, im Gegensatz zur restlichen Zone pulsiert hier sozusagen das Leben. Eine nagelneue, natürlich französische, Betonfabrik und das berühmte 80 Mio. Monument können bewundert werden. Auf der gegenüberliegenden Seite des Kühlkanals, ragt der nie vollendete Block 5 in die Höhe und 2 unvollständige Kühltürme zeugen vom Gigantomanie-Wahnsinn der damaligen Sowjetunion. Zum Zeitpunkt des Unglücks waren 4 Blöcke in Betrieb, 2 weitere in Bau und 6 weitere in Planung. In der Endphase mit 12 funktionierenden Blöcken wäre das Kraftwerk zum leistungsstärksten AKW der Welt aufgestiegen und man kann es als Fluch oder Segen sehen was geschehen ist. Wenn man die Landschaft und das Ökosystem betrachtet, kann man es durchaus als Segen betrachten. Ich bin ja nun doch schon ein wenig herumgekommen aber dieser Ort, so schwachsinnig das nun klingen mag, strotzt vor Leben und vor allem herrscht dort eine unbeschreibliche Stille. Im positiven Sinne wohlgemerkt, nicht bedrückend, einfach beruhigend. Ich hatte irgendwie das Bedürfnis, mich einfach mal hinzusetzen und diese Ruhe zu genießen.
Selbst 300m vom Reaktor entfernt, am Mahnmal „For those who saved the world“, welches nur 100m neben der riesigen Sarkophag-Baustelle liegt, herrscht diese unbeschreibliche, angenehme Stille. Da steht er nun das Ziel unserer Reise, Reaktorblock 4, der Reaktor der alles veränderte und der bis heute, aus meiner Sicht nicht nur die Gefahren der Kernenergie symbolisiert, sondern die Gefahren des menschlichen Größenwahns. Die größte Gefahr für die Technik, ist nicht die Technik selbst, sondern der Mensch der sie bedient. Igor ist sichtlich nervös an diesem Punkt unserer Tour und beobachtet uns mit Adleraugen, dass auch ja die Richtung der Kameras stimmt und wir ja nicht in die falsche Richtung fotografieren. Die Anlage in Tschernobyl ist trotz ihrer Abschaltung im Jahr 2000 immer noch als Nuklearanlage gekennzeichnet und somit sind Foto- und Videoaufnahmen nur in gewisse Richtungen, von gewissen Standpunkten aus erlaubt. Während der Fahrt um die Anlage müssen alle Fenster geschlossen sein und man fühlt sich von unzähligen Kameras beobachtet. Militärische Einheiten, die man vereinzelt sieht und bestens gepflegter Nato-Stacheldraht tun ihr Übriges um eine mulmige Atmosphäre zu erschaffen.
Nach zig Fotos in allen Variationen, verfrachtete uns Igor wieder in seine Karre und weiter ging es in den roten Wald oder das was noch davon übrig ist. Außer ein paar abgestorbenen Bäumen ist dort nichts mehr vom ursprünglichen Wald zu sehen. Birken, Buchen und Kiefern in voller Pracht, prägen diese wohl berühmteste Szenerie der verursachten Umweltschäden und wieder ist der Beweis erbracht. Die Natur holt sich alles zurück. Am Eingang zu Prypjat und unserem letzten Checkpoint wird es am sichtbarsten. Die ehemalige 4-spurige Prachtallee in die Stadt ist kaum breiter als ein Feldweg und im Sommer von einem geschlossenen Blätterdach überspannt. Man muss wie auf den ersten Kilometern der Zone schon ganz genau hinschauen, um die Häuser durch die Blätter zu erkennen. Nur das es sich diesmal nicht um kleine Hütten, sondern um bis zu 16 Stockwerke umfassende Hochhäuser handelt. Der Paradeplatz von Prypjat, ein Prachtwerk sowjetischer Monumentalbauweise. Hammer und Sichel überall, beste Stahlbetonhäuser und Panzerplatten auf der Straße. Vorzeigestadt der Kommunisten. Typisch Osteuropa eben. Alles ein wenig verfallen aber dennoch mit einer gewissen Faszination. Diese Vorzeigestadt, geplant auf dem Reisbrett, für 180.000 Menschen konstruiert und durchdacht bis ins letzte Detail, ist nur noch ein stiller vor sich hin faulender Haufen Müll.
Mit viel Natur und eben dieser angehnehmen Ruhe. Dass örtliche Restaurant und die Schwimmhalle sehen nicht wirklich einladend aus und ob die Briefe die man in den Postkasten wirft jemals ankommen, ist fraglich aber mit ein wenig Farbe sollte da schon etwas zu machen sein oder? Der Rundgang durch die Strassen und Häuser (Hey ich hab unterschrieben dass ich in keine Häuser gehe!!!) ist wie ein Spaziergang im Land von Lenin und Stalin. Plakate die zum höchstem Feiertag, dem 1. Mai 1986 vorbereitet wurden stehen in großen Lagerhallen und man hat das Gefühl gleich kommt einer um sie aufzuhängen. Aus der Ferne sieht auch das Riesenrad noch relativ funktionstüchtig aus. Ein kleiner Freizeitpark, gebaut zu Ehren des 1. Mai und nie drehte das Riesenrad auch nur eine Runde. Schon komisch hier zu stehen und den Verfall zu begutachten. Innerhalb der Häuser bietet sich dem Betrachter ein Bild der Verwüstung. Die Stadt musste mehrere Säuberungen über sich ergehen lassen um mittlerweile als gereinigt zu gelten. Als man die Bevölkerung evakuierte, plante man ernsthaft, die Menschen nach 1 Monat wieder in ihre Häuser zu lassen und bekanntlich kam nie wieder jemand zurück. Stattdessen begann man zeitig damit, kontaminierte Erde umzulagern und die Stadt zu dekontaminieren, was sich allerdings selbst für die Sowjetmacht als unlösbares Problem darstellte. Zu den Säuberungen kamen auch noch Umbauten, wie die Errichtung einer neuen Wasserversorgung, neue Asphaltdecken für die Straßen und die Vernichtung von sämtlichen Bäumen und Sträuchern im Stadtbereich. Nachdem die Stadt als verloren deklariert wurde, erlaubte man allerdings den Menschen nochmals zurückzukehren und persönliche Gegenstände wie Fotoalben u.ä. aus den Wohnungen zu holen. Danach begann die nächste Phase der Säuberung, bei der die meisten Möbelstücke in eigens dafür eingerichtete Lager gebracht wurden und in der darauffolgenden Phase wurden sämtliche Heizkörper entfernt, dekontaminiert und eingeschmolzen. Der fortschreitende Zerfall und die Natur tun ihr übriges um diese Stadt langsam aber sicher wieder dem Erdboden gleichzumachen. Die ersten eingestürzten Bauten sind schon zu erkennen und der Gang in den 16 Stock eines Hochhauses war dann doch ein Punkt der Reise, bei dem man dann ein komisches Gefühl hatte. Vor allem als Igor dann ganz stolz den mumifizierten Kadaver eines jungen Wolfes im 15 Stock präsentierte, gleich ober des Klaviers im 14 Stock. Und dann verdiente sich Igor sein Trinkgeld, indem er uns aufs Dach führte und mir einen meiner definitiv beeindruckensten Ausblicke meines Lebens bescherte. Auf diesem Dach wusste ich die Reise war jeden Cent wert und ich denke die Fotos sprechen für sich. Igor glaube ich bereut es uns da hochgeschleppt zu haben, irgendwie wollten wir nicht mehr gehen und ein kleiner hektisch umherlaufender Igor war auch einfach zu lustig. Die Aktion hat den Stresspegel bei Igor wieder ansteigen lassen und aus dem tiefenentspannten Fahrer Igor, wurde die Furie Igor. Zurück im Auto bretterte er jetzt in typisch ukrainischer Manier los und brachte seinen kleinen Chevy an die Grenze des technisch machbaren. Als plötzlich noch zwei streunende Hunde auftauchten und Igor versuchte die Viecher mit knapp 80 km/h zu überfahren, klammerte ich mich nur noch am Türgriff fest und wartete auf den Einschlag. Zum Glück für die Hunde und für uns, hat Igor sein Ziel haarscharf verfehlt und donnerte ungebremst weiter Richtung Checkpoint 3. Nebenbei erklärte er mal wieder in seiner ganz eigenen Art, dass diese Hunde eine Plage wären und eine Gefahr für uns Touristen und die Arbeiter. Ja ich will auch nicht plötzlich irgendwo im nirgendwo von einem Hund gebissen werden der zu 99% in der Zone gezeugt wurde und dort lebt aber die Aktion könnte sogar ich als überflüssig bewerten. Des weiteren (Gott sei Dank er fährt nur noch 70) schwadroniert er über die intakte Infrastruktur der Stadt, was angesichts der vorher erwähnten baulichen Substanz wie blanker Hohn klingt aber immerhin haben sie dort eine Polizeiwache, ein Baucontainer, mit 2 gelangweilten ständig rauchenden Wachen, eine Müllentsorgung, eine Wasserpumpstation und eine Wäscherei für das Kraftwerk. Borat würde in diesem Fall wohl sagen „Großer Erfolg“. Der Weg zurück in die Kantine, ins beschauliche Städtchen Chernobyl, dauert mit Igors neuer Fahrweise nun nur noch ein paar Minuten und unterwegs gibts die erste Strahlenprüfung durch geschultes Personal. Auto im Schritttempo durch den Scanner fahren, alle aussteigen, rein in die Baracke, jeder für sich durch den Strahlenscanner, wieder rein ins Auto, Papiere abstempeln und weiter geht’s. Mittagessen um 4 im Sperrbezirk hat man auch nicht alle Tage und dies war mein erster und einziger Kontakt mit der ukrainischen Küche, was nicht mal an mir lag oder am Essen aber es hat sich danach einfach nicht mehr ergeben. Positiv zu erwähnen sei das die Kantine natürlich über WLAN verfügte. Nach dem Lunch wieder in den Chevy und zurück zu Checkpoint 1. Gleiche Strahlenprozedur nochmal und nix wie raus aus der Zone. Jetzt war mir Igor absolut sympathisch, er holte alles aus seiner (K)karre raus und fuhr so wie ich es als Tourist erwartetet, ohne Rücksicht auf Verluste, telefonierend aber nicht rauchend. Anschnallen ist was für Weicheier. Und erklären konnte er auch in diesem Zustand noch bestens, so zeigte er uns kurz hinter der Zone 3, kleine Hügel im Feld, die sich bei näherer Betrachtung als Flugabwehrstellungen inkl. Radareinheit herausstellten. Nicht einmal vor der Zone machen die aktuellen politischen Ereignisse halt. Nach einer Stunde und unzähligen Toden, standen wir wieder vor unserer Barrikade, erfreuten uns am Geschimpfe von Igor mit den Rebellen, dass er seinen Kofferraum aufmachen muss und der gelungenste Bildungsausflug meines Lebens nahm sein Ende.
Ende, naja es war gerade mal 18 Uhr. Also fürs Gewissen erstmal duschen ein wenig ausruhen und ab ins Kiewer Nachtleben. Welcome to Eastern Europe. Komm schon Flo, lass uns ein wenig die Prachtstraße entlang flanieren, entlang an den brennenden Ölfässern, dem melancholischen Volkslied, dass in Dauerschleife aus den Lautsprechern dröhnt und mich spätestens in der nächsten Nacht zum Sprung aus dem 12 Stock zwingt. Viva la Revolucion, äh довгий жити та революція oder so ähnlich. 22 Uhr, die Fässer brennen, die Olle trällert ihr Lied, wir ziehen los. Kleiner Happen in der goldenen Möwe, soweit so gut und dann mein erster Kontakt mit der ukrainischen Frauenwelt. Eine nette Dame spricht mich ganz ungezwungen an und mir schießen sofort Floris Worte in den Kopf, die Frauen hier sind super sexy aber wie Taxler, provisionsgeile Selbständige. Fluchtversuch zwecklos also erzählt man der netten Dame halt irgendeine Story von wegen, müde und man muss ins Hotel. Großer Fehler, beim Wort Hotel klingelt es bei ihr und sie will mit, weil sie ja so alleine ist und sich gegen ein kleines Taschengeld gerne mit mir der Zweisamkeit hingeben würde. Die Rettung nahte dann in Floris Person und wir waren die erste von noch vielen folgenden geldgeilen ****** los. Auch wenn das mit der Hotelbuchung fast ein Desaster geworden wäre und meine Reisepass/ID-Karten-Aktion auch fast, so habe ich mich im Vorfeld doch eingehend mit dem Nachtleben beschäftigt und das O’Briens, ein nettes Irish Pub für mich entdeckt und ja es ist fast wie des in Garmisch. Nur größer aber wenn eine Band spielt, muss man sich auch anschreien. Nach zwei Erdinger Weißbier konnte die Nacht so richtig losgehen und hey wir sind in Osteuropa und da gehören Frauen des Gewerbes einfach dazu. Unser neuer Taxler, den wir vorm Irish aufgegabelt haben, kannte natürlich sofort „Girls“ und „Clubs“. Da unsere Präferenzen aber eher dem wohl des Auges und nicht des Körpers galten, haben wir uns dann ins nächste Klischee-Abenteuer gewagt. Stripclub in Kiew, nachts um 12. Eintritt 13 €, Bier 2 € und hübsche, extrem hübsche Frauen in einer Konzentration die man nicht mal in einschlägigen Castingshows findet. Unser Ziel der Dolls Men´s Club war jeden Cent wert um auch diese Seite von Kiew zu entdecken. Aufgrund einiger Erlebnisse von Junggesellenabschieden sind mir solche Einrichtungen in unseren Breiten auch bekannt und außer teuer sind die bei uns nichts im Vergleich. Sehr entspannte Atmosphäre, was zu kucken, Bier und das muss ich sehr bewundernswert hervorheben, keine aufdringlichen Damen. Wen man sich bei uns 4 stunden in so einem Etablissement betrinkt und keinen Privatdance kauft, fliegt man hochkant raus. Nicht so im Dolls. Leider kam es dann zum Streit mit der Geschäftsleitung, weil ich unbedingt eine „Dolls Menu Karte“ als Souvenir haben wollte und selbst nachdem ich umgerechnet 20 € dafür geboten habe, hat sie mir keine gegeben. Dafür gab es einen Schnaps aufs Haus. Jetzt endgültig erschlagen von allen Eindrücken ging es wieder Richtung Hotel und langsam aber sicher glaube ich die Taxler verarschen uns oder meinen für uns sind sie eh nur alle Igors. Igor Nummer 4 war Fahrer für den Heimweg und selbst morgens um halb 5, bewachten die Revoluzzer immer noch ihre Barrikade. Die kannten uns mittlerweile schon aber nein immer dasselbe Spiel.
Die letzte Nacht forderte natürlich ihren Tribut und der letzte Tag in Kiew brach darum erst um 1 Uhr mittags an und verlief relativ ereignislos. Ich entdeckte einen zerstörten Wasserwerfer, einen intakten aber von Rebellen besetzten Wasserwerfer und einen Schützenpanzer. Man durfte für eine Spende an die Revolution sogar auf den Panzer. Ich spendete lieber an ein Pärchen mit weißen Tauben und ließ mich mit denen ablichten.
Panzerfotos gab es im letzten Urlaub schon genügend. An unserem Lieblingsplatz, vor der goldenen Möwe, präsentierte dann noch eine 5er Gruppe ukrainischer Teenager in bester Manier was sie für einen Umgang mit der Geschichte haben. Nach unzähligen Selfies und anderen typischen Posen, stellten sich Jungs und Mädels in einer Reihe auf, grinsten und machten einfach mal den Hitlergruß. Lachten, kicherten und irgendwie schien es das Normalste auf der Welt zu sein. Definitiv einer meiner „ich bin sprachlos“-Momente dieser Reise. Ebenso habe ich meinen Hass auf Pantomime abgelegt und ihn um verlagert. Ich hasse jetzt aufdringliche Menschen in Ganzkörper-Comic-Kostümen die für Geld ein Foto machen wollen. Wenn mich noch einer angequatscht hätte, wäre ich wohl ausgeflippt, aber soweit kam es nicht. Ich rettete mich ins absolut verwaiste Einkaufszentrum, das auch zu diesen extremen Gegensätzen zählt. Draußen Revolution, drinnen gediegene Musik und der typische konsumgeschädigte Einkaufswahnsinn. Schnell noch paar Souvenirs kaufen, beim Billa!!!. Ja beim Billa, diese Supermarktkette, die in Österreich durch überzogene Preise und meist schäbige Läden glänzt, überzeugt in der Ukraine mit einem topmodernen, absolut sauberen Markt und sehr freundlichen Angestellten. Am Abend gab es nach dem wiederholten Besuch im Irish Pub wieder einen sprachlos Moment. Igor Nummer 5 soll uns in eine Disko bringen und meint er hat Geheimtipp. Ok cool, Geheimtipp von nem unsympathischen Kerl klingt nach Spiel, Spaß und Spannung. Das obligatorische Gebrabbel über Girls hab ich schon überhört und plötzlich stehen wir in einem Hinterhof in Kiew und Igor 5 schleust uns in ein Apartment voller Weiber. Ich weis nicht ob ich in diesem Moment einfach nicht geschalten habe, blöd war oder einfach das Abenteuer Osteuropa erleben wollte. Auf alle Fälle Flori und ich sitzen auf einer Couch und 12 Mädels lachen uns an und bieten ihre Dienste an. Kurze Diskussion wer von uns jetzt Schuld an dieser Situation ist und der schnelle Entschluss, wir müssen hier raus. Igor der 5. fürchtet um seine Courtage und bedrängt uns er kann nen Discount aushandeln. Ein beherztes „No good girls“ zieht mir zwar den Unmut der anwesenden Mädels zu aber er rettet meine Niere vor dem Verkauf an einen russischen Oligarchen. Man weis ja nie, typisch Osteuropa halt. Leider war die Aussage mit den scheiß Mädels eher kontraproduktiv und anstatt in einer Disko landen wir in einem Strippclub/Laufhaus, das Igor Nr. 5 als Disko verkauft hat. Denn wummernden Bässen nach hätte er auch Recht haben können. Notgedrungen und um ihn einfach loszuwerden, beschließen wir, uns fortan zu Fuß fortzubewegen. Eine grenzgeniale Idee in einer Stadt, die man nicht kennt, ohne Handy und ohne Navi. Aber wie es das Schicksal so wollte, eine Straße weiter war das Dolls. Also nochmal Dolls, nochmal einen entspannten Abend als typischer Osteuropa-Tourist genießen.
So endete dieser doch nicht ganz gewöhnliche Trip rund um Strahlung, Nutten und Barrikaden, ohne Verluste der Muttersprache, des Anstandes oder dem ein oder anderen ungewollten Mitbringsel.